Eine halbe Stunde später kam Liv beim Tierarzt an. Bloß eine halbe Stunde, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Nanna war brav mitgelaufen. Mit aller Selbstverständlichkeit. Der Tierarzt Dr. Wagenscheidt war noch in der Ordination, obwohl die Sprechstunde schon vorbei war. Versonnen saß er hinter dem Schreibtisch, als Liv mit Nanna im Schlepptau und diesem winzigen Bündel Leben in Händen schnurstracks eintrat.
„Guten Tag, Herr Doktor!“, stieß sie hervor, immer noch außer Atem. Langsam wandte der Veterinär seinen Blick zu dem seltsamen Gespann.
„Grüß Gott“, erwiderte der Arzt, „Was kann ich für Dich tun? Das ist doch nicht etwa das, was ich denke?“
„Ich kann nicht sagen, was sie denken und ich kenne mich auch nicht aus, aber ich habe das Gefühl, dass dieses Baby stirbt, wenn man ihm nicht schnell hilft“, erklärte Liv.
„Wo hast Du es her, dieses Ferkel?“, fragte der Doktor, nachdem der aufgestanden, um den Tisch herumgegangen und direkt vor Liv stehen geblieben war.
„Ist das nicht egal?“, meinte Liv irritiert, „Da ist ein Lebewesen, das offensichtlich dringend Ihre Hilfe braucht und das ist es doch, was zählt.“
„Ich frage deshalb, weil ich fürchte, Du hast es aus der Mülltonne vom Huberbauern stammt. Und das ist Diebstahl“, erklärte er Liv.
„Aber er wollte sie sowieso wegschmeißen. Pech halt, dass es noch gelebt hat“, entgegnete Liv zynisch, „Helfen Sie dem Kleinen jetzt oder nicht? Wenn nicht suche ich mir einen anderen Arzt.“ Das ließ ihn einlenken. Nachdem er das kleine Wesen eingehend untersucht hatte, war die Diagnose recht einfach. Es war unterernährt und dehydriert. Deshalb kam es an den Tropf. Den restlichen Tag verbrachte Liv damit abzuwarten. Immer wieder sah sie nach, ob sich er Brustkorb noch hob und senkte, doch es fand stundenlang nicht recht ins Leben, war aber offenbar auch noch zu stark, um zu sterben. Endlich zeigte es die ersten Anzeichen, sich für das Leben entschieden zu haben. Es schlug die Augen auf und versuchte auf die kleinen Beinchen zu kommen. Der Arzt schien zufrieden mit seiner kleinen Patientin zu sein und schickte Liv mit ihr nach Hause. „Ich werde Dich Runa nennen, das klingt so schön geheimnisvoll“, dachte Liv, während sie das Haus betrat und sich zum ersten Mal bewusst wurde, dass sie nun eine neue Mitbewohnerin hatte. Wie wohl ihre Mutter reagieren würde? Sie hatte keine Zeit, weiter über diese Frage nachzudenken, denn im selben Moment stand die Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, vor ihr.
„Wo warst Du nur die ganze Zeit? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Gehst einfach weg und kommst erst viele Stunden später nach Hause und sagst kein Wort und erreichen konnten wir Dich auch nicht“, sprudelte es aus Livs Mutter ungebremst heraus.
„Entschuldige, mein Akku war leer und ich hatte einen Notfall“, meinte Liv ausweichend, als ihre Mutter endlich das Bündel sah, das sie in Händen trug.
„Was bitte ist das?“, fragte ihre Mutter spitz.
„Das ist ein Ferkel“, erwiderte Liv ruhig.
„Das sehe ich“, meinte ihre Erziehungsberechtigte völlig unlogischer weise, denn sie hatte ja gerade danach gefragt, „Ich wollte eigentlich sagen, was tut dieses Vieh hier in unserem Haus?“
„Ich habe es in der Mülltonne gefunden und davor bewahrt, grausamst zu sterben“, erklärte Liv, „Ich war beim Tierarzt und es sieht so aus, als käme sie über den Berg.“
„Du willst mir also sagen, dass Du sie gestohlen hast und nun bringst Du sie mit und hast auch noch einen Haufen Geld für den Arzt ausgegeben?“, empörte sich ihre Mutter.
„Aber er hätte es einfach sterben lassen“, unternahm Liv einen weiteren Anlauf.
„So ist das nun mal in der Natur“, entgegnete ihre Mutter nüchtern, „Tiere sterben.“
„Aber das war nicht in der Natur, sondern in einer Mülltonne. Ist es auch natürlich, dass Tiere in Mülltonnen gestopft werden, um sie sterben zu lassen?“, erwiderte Liv aufgebracht.
„Nun, das ist ja nicht so schlimm“, meinte ihre Mutter, „Es hat sicher eh nichts mehr gemerkt. Aber wenn es schon mal da ist, nun, Du kannst Dir das mit Deinem Vater ausschnapsen. Und das Essen ist fertig.“
„Was gibt es denn?“, wollte Liv wissen.
„Schweinsbraten“, sagte die Dame des Hauses achselzuckend.
„Ich werde kein Fleisch mehr essen! Nie mehr! Das ist nämlich der Grund, warum arme, unschuldige Kreaturen in Mülltonnen krepieren müssen“, erklärte Liv.
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