Liv begnügte sich also mit den Beilagen. Verstohlen sah sie zu den Tellern der anderen, die unverdrossen aßen. Zugegebenermaßen so, wie es Liv am Tag zuvor auch noch getan hatte, doch wenn sie nun das Fleisch sah, so verwandelte es sich vor ihren Augen in ein Lebewesen, das nicht sterben wollte, hörte die Schreie des Schmerzes und der Verlassenheit, der Angst und des Terrors, sah die schreckgeweiteten Augen vor sich. Lebenslänglich eingesperrt, völlig unschuldig. Und vor allem, warum sahen es die anderen nicht? War sie die einzige, die sehen konnte? Es war ihr, als wäre sie die einzige, die erwacht war und alle anderen schliefen weiter, einen Schlaf, in dem das Leid und das Elend und der Terror ignoriert werden und das sie Leben nennen.
„Iss jetzt endlich ordentlich“, riss ihre Mutter sie aus ihren Gedanken.
„Jetzt reicht es!“, donnerte plötzlich ihr Vater, völlig unvermutet. Für einen Moment kehrte Stille ein, abgrundtiefe Stille, doch Livs Mutter fing sich schnell wieder.
„Was soll das jetzt heißen?“, fragte diese pikiert.
„Das soll heißen, dass ich jetzt etwas mache, was ich schon längst hätte tun sollen“, erklärte ihr Vater, während er demonstrativ das Fleisch von seinem Teller entfernte, „Jahrelang habe ich mich gefügt, bloß um des lieben Friedens willen. Eigentlich Jahrzehnte. Ich habe gegen mein eigenes Gewissen gelebt und jetzt macht mir meine eigene Tochter deutlich, dass es nichts gibt, womit das zu rechtfertigen ist.“
„Du bist also jetzt auch gegen mich?“, pfauchte Anneliese, „Wo Du mich gegen diesen Unsinn unterstützen solltest, fällst Du mir in den Rücken.“
„Nein, ich falle Dir nicht in den Rücken und andere Lebewesen schonen zu wollen ist kein Unsinn, sondern das Einzige, was wirklich Sinn macht“, fuhr ihr Mann ungerührt fort.
„Das wird Dir noch leid tun!“, zeterte Anneliese weiter.
„Nein, das einzige, was mir leid tut ist, dass ich mich so lange von Dir bevormunden ließ“, erklärte Hektor, Livs Vater.
„Bevormunden nennt er das“, wiederholte Anneliese, „Dabei habe ich es immer nur gut gemeint. Das ist doch völlig ungesund. Der Mensch ist ein Fleischfresser, weil da waren schon die Steinzeitmenschen und was ist mit den Löwen und die Inuit, die würden verhungern, und was ist mit den Proteinen und dem Vitamin B12 und dem Soja aus dem Regenwald.“
„Wir sind weder Steinzeitmenschen noch Inuit noch Löwen. Wir brauchen keinen Soja aus dem Regenwald, sondern nur die sog. Nutztiere. Und Proteine bekommen wir genug, mach Dir keine Sorgen“, meinte Hektor ungerührt.
„Wenn das so ist, dann könnt ihr gleich gehen“, meinte Anneliese, „Du und Deine missratene Tochter und dieses grausliche Schwein. Ich will Euch in meinem Haus nicht mehr sehen, so lange ihr solchen Unsinn redet.“
„Gut, dann gehen wir“, meinte Livs Vater, stand auf und hob die kleine Runa auf seine Arme, um sich dann noch einmal seiner Frau zuzuwenden, „Ich werde keine weitere Nacht in einem Haus verbringen, in dem man bereit ist solch einem Wesen, das nichts als leben will und eigentlich auch nicht mehr hat, als sein Leben, eben jenes wegzunehmen, um dabei auch noch zu feig zu sein, es selbst zu tun. Morden dürfen die anderen, um nicht mehr daran denken zu müssen, wenn es fein säuberlich abgepackt im Regal liegt. Unmenschlicher geht es fast nicht mehr.“ Damit reichte er Liv seine Hand und verließ mit ihr das Haus. Das letzte was sie hörte war das genussvolle Schmatzen ihres kleinen Bruders Kevin, der in aller Ruhe weitergegessen hatte, als wäre nichts passiert.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Liv irritiert, als sie auf der Straße standen, sie, ihr Vater, Nanna, die automatisch mitgegangen war und das Baby Runa. Einige Minuten stand Hektor nur da und starrte vor sich hin, als könnte er selbst nicht glauben, dass er das tatsächlich getan hatte. Endlich riss ihn die Frage seiner Tochter zurück in die Wirklichkeit und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Komm, ich habe eine Idee. Wir versuchen es bei Zoe“, erklärte er voller Überzeugung.
„Meinst Du diese verrückte Künstlerin, die da auf dem Bauernhof wohnt?“, wollte sich Liv vergewissern.
„Ja, genau die meine ich“, entgegnete ihr Vater knapp, „Wenn wir jemand um Rat fragen können, dann sie.“ Damit bugsierte Hektor alle drei Mädchen in sein Auto. Wenige Minuten später hielten sie vor dem Vierkanthof, in dem Zoe lebte.
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