Fische leiden ungehört

Tim ging jeden Tag, wenn er von der Schule nach Hause ging, am Mühlenweiher vorbei. Nicht direkt, um ganz ehrlich zu sein. Vielmehr nahm er einen Umweg von ungefähr zehn Minuten in Kauf, um seinen Freund zu besuchen. Er hatte ihn Red genannt, weil es sich um eine Rotfeder handelte, einen kleinen Fisch mit markanten Merkmalen. Auch wenn es seltsam anmuten mag, aber Tim, mit seinen gerade mal zehn Jahren hatte einen ausgeprägten Sinn für die Natur. Er fühlte sich ihr zutiefst verbunden. Wahrscheinlich legen die meisten Menschen das erst später in ihrem Leben ab. Tim jedenfalls konnte es noch, die Natur um sich einfach wahrzunehmen, wie sie war, ohne jegliche Ansprüche zu stellen. So hatte er es sich schon vor längerer Zeit zur Angewohnheit gemacht, eine Zeitlang auf dem Steg zu verweilen und das Wasser zu beobachten. Eines Tages geschah etwas, was wohl noch wenige Menschen erleben durften, aber die meisten Menschen hätten auch nicht die Geduld gehabt und die Absichtslosigkeit.

Eine Rotfeder streckte ihren Kopf heraus. Tim wusste nicht genau, was er machen sollte. So sprach er mit dem Fisch. Beruhigend, sanft und verbindend. Zuletzt streckte er vorsichtig die Hand aus, aber der Fisch schwamm nicht weg, sondern ließ sich am Bauch kraulen, was er auch sichtlich genoss. Nach einigen Minuten schwamm er wieder weg. Am nächsten Tag hatte Tim Futter mitgebracht, das er aus den Vorräten, die sein Vater zu Hause hatte, mitnahm. Tim ließ einen der kleinen Pellets ins Wasser fallen und kurz darauf war die Rotfeder angeschwommen. Das Spiel wiederholte sich nun täglich. Tim konnte es kaum mehr erwarten, dass die Schulglocke das Ende des Unterrichtes verkündete und er seinen Freund besuchen gehen konnte. Doch dann geschah es, dass er krank wurde. Sieben Tage lang musste er das Bett hüten, so dass er Red, wie er ihn genannt hatte, nicht besuchen konnte. Endlich war es wieder so weit. Doch als er an diesem Tag zum Mühlenweiher kam, musste er mit Erschrecken feststellen, dass ein Angler auf dem Steg saß. Gerade hatte ein Fisch angebissen und Tim musste mitansehen, wie der unbekannte, junge Mann einen zappelnden Wasserbewohner aus dem Wasser zog. Vorsichtig trag Tim näher. Er war sich sicher, dass es sich um Red handelte. Sein kleiner Freund mit den Flossen wand sich und kämpfte sichtlich um sein Leben. Deshalb nahm Tim all seinen Mut zusammen und ging auf den Angler zu.
„Was machst Du mit meinem Freund?“, fragte er mit einer Stimme, die seine Verzweiflung sehr gut zum Ausdruck brachte. Der Angesprochene hob den Kopf und sah den Jungen verwundert an.
„Was soll das für ein Unsinn sein?“, erwiderte er kopfschüttelnd, „Das ist ein Fisch und kein Freund.“
„Aber er ist ein lebendiges, fühlendes Wesen“, gab Tim zurück, „Siehst Du nicht, wie er verzweifelt nach Luft schnappt und Schmerzen hat?“
„Fische fühlen keine Schmerzen“, kam die prompte Antwort des Anglers, so rasch, als wäre es der Weisheit letzter Schluss.
„Fische fühlen genauso Schmerz“, wies ihn Tim zurecht, „Sie leben in Sozialverbänden, kümmern sich um ihre Jungen, je nach Art, kommunizieren miteinander, gehen Partnerschaften ein und haben Spaß.“ Verblüfft entfernte der Angler daraufhin den Haken aus den sensiblen Lippen des Fisches und warf ihn zurück ins Wasser.
„Woher willst Du das wissen?“, wollte er nun wissen.
„Mein Vater ist Ichthyologe“, antwortete Tim, „Ich weiß ganz viel über Fische und auch andere Wasserbewohner.“
„Also schön, dann will ich Dir das mal glauben, auch wenn ich skeptisch bin“, meinte der Angler.
„Stell Dir vor, wie Du Dich fühlen würdest, wenn Dir plötzlich jemand einen Haken durch die Lippen sticht, Dich wohin verfrachtet, wo Du keine Luft bekommst. Hättest Du nicht schreckliche Angst?“, hakte Tim nach.
„Und Du meinst, das tue ich mit dem Fisch?“, wollte der Angler nun wissen.
„Ja, genau das tust Du“, erwiderte Tim, „Aber ich will Dir was zeigen.“ Damit warf er ein Pellet ins Wasser und wenige Augenblicke später war Red da, verschlang das Futter und ließ sich dann genüsslich kraulen, wie er es gewohnt war. Staunend sah der Angler zu. Er konnte seinen Augen kaum trauen.
„Das passiert wahrscheinlich, weil wir an der Luft und sie im Wasser leben“, meinte er nachdenklich, „Sie sind uns so fern.“
„Desto wichtiger ist es, sie kennenzulernen“, antwortete Tim lächelnd, bevor er sich verabschiedete und nach Hause lief. Auch der Angler ging seines Weges. Nur, dass er jetzt kein Angler mehr sein wollte.

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