Es war an einem jener Tage, an denen ich mit dem Leben nicht zurechtkam. Das ist nicht weiters ungewöhnlich. Schon gar nicht bemerkenswert. Es unterläuft mir, mitunter. Doch diesmal hatte ich einen Grund. Sogar so einen, von dem auch andere akzeptieren würden, dass man mal mit dem Leben nicht zurechtkommt. Zumindest so lange die anderen nicht zu den ganz Strengen zählen, die ein so wohlgemeintes und unnötiges „Reiß Dich doch zusammen“ in ihrem Standardrepertoire führen und es jedem, der es hören will, unterjubeln. Auch denen, die es nicht hören wollen. Aber mein Grund war verdammt gut. Ich sah meine Ehe den Bach hinuntergehen, und so, wie es unmöglich ist das Wasser dazu zu bringen plötzlich bergauf zu fließen, so war es unmöglich noch einmal gegenzulenken. Oder doch? Hatte ich denn wirklich schon alles probiert?
An solch einem Tag ließ ich alles stehen und liegen, weil es auch stehen- und liegengeblieben wäre, auch wenn ich mich entschlossen hätte zu bleiben. Deshalb ging ich. Irgendwohin, jenes, zu dem mich meine Füße trugen. Ich sah nur den Boden unter meinen Füßen. Da waren die Kacheln. Die Türe schloss sich. Beton, der langsam überging in Schotter. Auf den Schotter folgte der Waldboden. Ich ging immer weiter, den Blick starr auf meine Füße geheftet, als mich ein Knacken aufsehen ließ. Nicht, weil ich mich entschlossen hätte. Es passierte automatisch, da ich die Quelle des Geräuschs ausfindig machen wollte. Vielleicht drohte mir Gefahr. Auch in unseren Wäldern drohen Gefahren. Mitunter. Dann entdeckte ich sie. Fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn … fünfzehn, ja fünfzehn Wildschweine. Eine ganze Rotte. Sie trabten von rechts kommend über den Weg, dem ich folgte. Nah genug, dass ich sie erkennen konnte, und wohl sie auch mich, aber gleichzeitig mit solch einem Abstand, dass wir nicht misstrauisch werden mussten. Sie nicht und ich nicht. Kurz sahen sie im Vorbeilaufen auf. Musterten mich und befanden wohl, dass es weder notwendig war davonzulaufen noch mich anzugreifen.
Mein erster Impuls war mich so unauffällig wie möglich zu entfernen. Es waren schließlich Wildschweine, Keiler und Bachen und Frischlinge. Wilde Schweine. Den Namen haben sie nicht umsonst. Doch statt diesem Impuls zu folgen, setzte ich mich. Aus einer Masse von namenlosen, gleichförmigen Wildschweinen begannen sich Individuen herauszuschälen. Keiler mit imposanten Hauern, die sich an den Rand der Gruppe platzierten, jederzeit bereit zur Verteidigung. Ruhige, gesetzte Herren, aber auch einer, der gerade der Pubertät entwachsen war und unruhig hin und her trabte. Bachen, die sich immer ganz nahe bei ihren Babys aufhielten. Frischlinge, mit den signifikanten Streifen, die herumtobten. Familie. Eine große Familie. Wildschweine. Immer wieder schnüffelten die Kleinen in meine Richtung, liefen wohl auch ein paar Schritte auf mich zu. Dann wandten sie sich wieder um, als wenn sie das Einverständnis der Mutter einholen wollten, die sie nicht bekamen.
„Das ist doch nur ein Mensch. Der ist nicht interessant“, schien die Mutter sagen zu wollen. Die Kleinen ließen es gut sein. Sie tobten. Spielten. Neckten einander, weil sie sich sicher fühlten. Neben der Mama. Der Oma. Den Geschwistern.
„Wie Menschenkinder“, schoss es mir durch den Kopf, „Eine Familie, eine große, normale Familie. Wo ist der Unterschied, außer im Aussehen. Sie wollen leben. So wie ich. Sie suchen die Geborgenheit und Heimat. So wie ich.“
Ich saß einfach da und beobachtete sie. Nichts weiter. Alles andere war vergessen. Bis die Dämmerung einsetzte. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Lärm die Stille. Die Wildschweine stoben panisch auseinander und flohen. Kopflos. Nur eines schleppte sich mühsam vorwärts. Blut rann aus seiner Seite. Ein Schuss, aber ein schlechter. Wie so oft. Leiden. Die Familie zerrissen. Nichts konnte das wieder gut machen. Der Mann mit dem Gewehr stieg vom Hochsitz und gab dem verletzten Keiler den Rest. Alles ganz normal für ihn. Er hatte sie nicht gesehen, die Familie und die Lust am Leben. Nur der Tod ist unumkehrbar.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lief nach Hause. Wasser wird dennoch nicht bergauf fließen, aber vielleicht kann man einen Staudamm bauen, so lange noch nicht alles davongeflossen ist, und das ist es nicht, so lange wir leben.
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