In letzter Zeit zwingt sich mir zusehends der Verdacht auf, dass immer mehr Menschen dazu neigen, sich aus ein paar Informationsfetzen, ihre Wahrheit zu bilden, die dann absolut ist. Am eigenen Leib quasi musste ich es verspüren, als ich vor einigen Tagen mit den Hunden im Wald spazieren ging. Seit nunmehr über zehn Jahren nutzen wir die Wege, um uns der Natur zu erfreuen, durchzuatmen, abzuschalten. Ein friedliches Fleckchen Erde, das nicht einmal 100 m von meinem Haus entfernt liegt.
Mittlerweile ist mein Rüde alt und unsere Spaziergänge werden Tag um Tag kontemplativer. Es fällt ihm schwer Luft zu bekommen, besonders wenn er dazwischen meint, sich austoben zu müssen und sich dabei übernimmt. Dann stehen wir für einige Minuten still, er streckt die Nase in die Luft und ringt um Atem. „Beginnende Kehlkopflähmung“ war die Diagnose, was ihn aber nicht daran hindert, gerne spazieren zu gehen, nur eben langsam und mit der einen oder anderen Stehpause. Und gerade als wir so standen, mitten am Weg, zugegebenermaßen, rollte hinter uns eine Partie Mountainbiker*innen heran, die abrupt abbremsen mussten. „Schleich di, Depatte!“, war noch eine der netteren Aussagen. Sie waren offenbar geschlossen der Meinung, dass ich hier stünde, weil ich ihnen das Leben schwer machen wollte. „Zwei Minuten Geduld“, bat ich sie, doch es war überflüssig. Ich könne mich ja genauso gut woanders hinstellen. Dass ich das nicht konnte, das hörten sie nicht. Wollten sie nicht hören. Unter weiteren Beschimpfungen zwängten sie sich an mir vorbei. Kaum waren sie außer Sicht, trabte mein Großer an und wir gingen normal weiter. Ich hätte natürlich versuchen können, die Schimpftiraden zu überschreien, um ihnen zu erklären, warum wir gerade hier und nirgends anders standen. Aber sie waren offenbar überzeugt davon, dass ich nur da war, um sie zu ärgern, ich und meine Hunde, ihnen quasi etwas zu Fleiß zu tun, da sie wissen mussten, dass es auf diesem Weg nicht erlaubt war, mit dem Bike zu fahren. Daran sind allerdings die Biker selbst schuld. Vor Jahren, als es noch keine Reglementierungen gab, stürzte einer von ihnen über eine Wurzel und verletzte sich schwer. Wer schon einmal erlebt hat, mit welchem Tempo manche von ihnen die schmalsten Wege hinunterrasen, wundert sich eher, dass nicht mehr passiert. Nun würde jeder normale Mensch wohl denken, „Ich muss das nächste Mal besser aufpassen“. Dieser aber war der Meinung, dass der Waldbesitzer schuld war und verklagte ihn kurzerhand. Das Gericht würde, so könnte man weiter denken, ebenfalls urteilen, dass das in der Eigenverantwortung des Fahrenden liegt. Weit gefehlt. Die Justiz gab dem Biker recht und verurteilte den Waldbesitzer zu beträchtlichem Schadensersatz. Es ist schließlich auch grob fahrlässig, dass Wurzeln wachsen wie sie wollen oder irgendwo ein Ast herumliegt. Daraufhin erging ein generelles Fahrverbot. Nach zähen Verhandlungen, einigten sich die Waldbesitzer*innen mit den beräderten Waldbenützer*innen, dass sie bestimmte, besonders gekennzeichnete Wege von nun an benutzen durften. Seitdem kann man Schilder sehen, die anzeigen, auf welchen Wegen gefahren werden darf. Bloß, dass sich niemand daran hält. Ich persönlich habe auch kein Problem damit, so lange man aufeinander achtet und Rücksicht nimmt. Die meisten tun es auch, aber immer wieder kommt es zu Zusammenstößen, wo Fußgänger*innen nicht schnell genug fliehen können, um den Herren und Damen auf den Rädern, den Weg freizugeben. Blöd nur, wenn man nicht dazu in der Lage ist, sofort ins nächste Gebüsch zu springen. Und wenn man das nicht tut, dass beinhart daraus geschlossen wird, es in böser Absicht zu tun, ihnen zu Fleiß. Hätten sie mir einen Moment zugehört, hätte ich es erklären können. Aber es hatte ihnen genügt, zu sehen, dass da jemand scheinbar unmotiviert im Weg herumsteht, um daraus ihre Wahrheit zu konstruieren, ihre absolute Wahrheit. Aber ist es tatsächlich so schwer, nicht sofort zu urteilen, zu verurteilen, abzuurteilen, und stattdessen einmal mehr nachzufragen, was denn dahinter steckt, das nicht offensichtlich ist? Ist es so abwegig, den Anderen nicht gleich Böswilligkeit, in erster Linie gegen die eigene Person, zu unterstellen? Natürlich sind nicht alle so, denn es ist mir auch schon passiert, dass eine Spaziergängerin stehen blieb, meinen Hund ansah, und fragte, ob denn alles mit ihm in Ordnung sei. Dann habe ich es ihr erzählt und sie verstand. So einfach könnte es sein, wenn man sich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt.
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