Alleingelassen

Timo rollte sich ganz fest zusammen, in der hintersten Ecke des Verschlages, in den man ihn gesperrt hatte. Die ersten Schneeflocken wogten sanft herab und er fror entsetzlich. Doch viel schlimmer als die Kälte war die Einsamkeit, die schreckliche Angst, nie wieder zu seiner Mama zu kommen. Dabei war er doch erst ganz kurz auf der Welt. Sollte er sich da nicht zu seiner Mama kuscheln, bei ihr trinken? Ein bisschen mehr rollte er sich ein. So weit es eben ging. Gut, sein Verschlag war dick mit Stroh ausgepolstert, aber die Kälte blieb trotzdem und gegen die Einsamkeit half auch die dickste Strohschicht nicht. Schon gar nicht gegen die Angst. Doch was war geschehen? Warum musste er da sein? Er hörte seine Mama rufen. Sie konnte gar nicht weit weg sein. Trotzdem war er da und sie dort.

Seine Mutter hatte ihn vor Kurzem zur Welt gebracht. Sobald er ganz aus ihrem Körper geschlüpft war, begann sie ihn abzuschlecken. Er kannte seine Stimme. Natürlich hatte er keinen Namen bekommen. Nur eine Nummer. Das genügte für ein Lebewesen, das man eigentlich gar nicht haben wollte. Bloß, weil er ein Junge war. Dann stellte er sich auf und wollte bei seiner Mama trinken, doch da wurde er rüde weggerissen und in eine Schubkarre geschmissen. Er sah noch, wie sie seine Mutter mit aller Kraft zurückhalten mussten. Sie wollte nicht zulassen, dass die Menschen ihn mit sich nahmen, fort von ihr, fort aus der Sicherheit und der Zuversicht, hinaus in die Kälte und die Einsamkeit und die Angst. Doch es gelang ihr nicht. Sie nahmen ihn mit und schmissen ihn in den Verschlag. Dort musste er bleiben, während seine Mutter herzzerreißend nach ihm rief. Dann hatte er auch noch Durchfall bekommen. Doch es kam kein Arzt. Er bekam keine Medikamente. Eigentlich wären die Besitzer*innen ganz froh, wenn er abkratzen würde. Dann müssten sie ihn nicht mehr füttern. Geld bekamen sie sowieso nicht viel für ihn. Sie mussten froh sein, wenn damit die Futterkosten gedeckt werden könnten, die sie bis jetzt schon investiert hatten. Viel zu mager und schwach war er, bloß eine Last, Abfall und für nichts zu gebrauchen. Nicht nur, dass er keine Milch gab, wie seine Mama, die eigentlich seine sein sollte, aber durch billigen Milchaustauscher ersetzt wurde, er war auch noch viel zu schmächtig. Morgen, spätestens übermorgen würde er tot sein. „So ein Pech aber auch“, würden sie sagen und ihn zur Tierkörperverwertung bringen. Damit wäre das Problem erledigt. Doch es sollte anders kommen.

Timo lebte noch, auch noch am übernächsten Tag. Da spazierte eine Menschenfrau auf den Hof und sah diese kleine, abgemagerte, total vom Kot verdreckte Kalb. Daraufhin ging sie schnurstracks zum Bauern und fragte ihn, was er denn haben wolle, für das Kalb und die dazugehörige Mama. Der Bauer, der ein gutes Geschäft witterte, sah sie nachdenklich an. Er wog in Gedanken ab, wie weit er gehen konnte. „Das war wieder so eine, die auf dem Rettungstrip war. Ach das arme Kälbchen, das müsste ihr schon was wert sein, jedenfalls mehr, als ich je bekommen hätte. Und die Mutter, die würde nach dieser Laktationsphase auch in den Fleischwolf kommen. Die war auch schon fertig“, dachte er für sich, um dann laut zu sagen: „2.000.“ „€ 2.000,– für beide?“, fragte die Dame nach. „Ja“, meinte er, denn er war eher wortkarg. Aber die Dame war es auch, so dass sie die Scheine aus ihre Tasche nahm und ihm in die Hand zählte. Dann machte sie einige Fotos von ihren Neuerwerbungen und führte ein kurzes Telefonat. Wenige Minuten später fuhr ein Hänger auf den Hof und Mutter und Kind wurden gemeinsam eingeladen. Ihr Ziel war ein sog. Lebenshof, auf dem Mutter und Kind glücklich leben konnten, bis sie eines natürlichen Todes sterben würden.

„Vielleicht hätte ich mehr verlangen sollen“, dachte der Bauer, als er ein paar Tage später die Zeitung in Händen hielt und die Fotos der Tiere sah, die er verkauft hatte, „Schändlich, mich so an den Pranger zu stellen. Hat die das doch glatt veröffentlicht. Aber den Amtstierarzt kenne ich gut. Das wird alles in Ordnung gehen.“

Das ist wie im echten Leben. Der Amtstierarzt kommt, bemängelt das eine oder andere, z.B. das Kälber mit Durchfallerkrankungen nicht behandelt werden, schreibt seinen Bericht und alles geht weiter wie bisher. Was nicht wie im echten Leben ist, dass Mutter und Kind miteinander friedlich leben können, ohne Kälte, Einsamkeit und Angst. Im echten Leben werden sie getrennt und die männlichen Kinder verschachert, weil sie für nichts nutze sind. Die Mütter werden ausgebeutet, bis ihr Körper sich völlig verausgabt hat, nach wenigen Jahren. Dann werden sie getötet. Das geschieht millionenfach und alle werden sie alleingelassen, mit ihrem Schmerz und der Angst. Niemand schert sich um sie. Sie leben ein Leben, das man nicht so nennen kann, gekennzeichnet von Schmerz und Ausbeutung und Missbrauch, bis sie allzufrüh getötet werden. Alles ganz normal, in einer Gesellschaft, in der ein Lebewesen und seine Bedürfnisse nichts wert sind.

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