Empathie verboten (1)

Anna war noch nie bei einer Geburt dabeigewesen, obwohl sie auf einem Bauernhof großgeworden war, der Milchwirtschaft betrieb. Das bedeutete, dass die Kühe ständig Kälber zur Welt bringen mussten, um den Milchfluss am Laufen zu halten, während die damit verbundenen Babies eher als Kollateralschaden gesehen wurden. Waren es Mädchen, so hatten sie zumindest noch die Möglichkeit, in die Fußstapfen ihrer Mütter zu treten, aber Buben waren für gar nichts gut. Nicht nur, dass sie keine Milch gaben, sie brauchten auch unheimlich lange, um Fleisch anzusetzen. Deshalb wurden sie so rasch wie möglich auf den Markt gebracht. Der Ertrag war zwar mäßig, aber jeden Tag, den sie früher den Hof verließen, war ein Tag weniger, den sie durchgefüttert werden mussten. Aber ganz gleich welches Geschlecht die Kleinen hatten, sie kamen kurz nach der Geburt von der Mutter weg und in Einzelhaft in sog. Kälberiglus. Anna konnte es nicht ertragen, auch wenn sie dem nicht auskam. Schließlich schrien die Mütter nach ihren Babies, oft tagelang. Doch niemand schien das zu tangieren – außer ihr. Deshalb wollte sie so schnell wie möglich weg. „Nur noch ein paar Monate, dann habe ich die Matura und ich gehe hier weg, für immer“, dachte Anna. Doch dann lernte sie Mathilde kennen.

Mathilde war eine junge Kuh, die im Begriff war, ihr erstes Baby zur Welt zu bringen. „Ich hätte sie gleich wegtun sollen“, murrte der Vater beim Mittagessen, „Das war eigentlich klar, dass aus der nichts wird.“ Anna wurde hellhörig. „Was ist leicht mit ihr?“, fragte sie nach. „Sie ist so zart und tut sich sicher schwer bei der Geburt und ich weiß auch nicht ob der Ertrag das rechtfertigt“, meinte der Vater lapidar. Die Mutter meinte nichts. Aber sie meinte auch nie irgendetwas, sondern tat einfach, was sie zu tun hatte. Doch automatisch fühlte sich Anna mit der Kuh verbunden. Dieses Wesen schien genauso eine Außenseiterin zu sein, wie sie selbst. Sommersprossig mit wilden, leuchten roten Locken versehen, konnte der Kontrast zum Rest ihrer Familie kaum größer sein. Sowohl Vater, Mutter, als auch die beiden Brüder hatten dunkles Haar und braune Augen. Es ging das Gerücht, dass Anna ein Ausrutscher ihrer Mutter mit einem schottischen Sommergast gewesen war. Niemals wurde es offen angesprochen, auch wenn es sehr wahrscheinlich war. Es wurde totgeschwiegen, so wie die Übergriffe des Bauern den Mägden gegenüber. Anna jedenfalls war sich sicher, dass sie mit dieser Familie nichts gemein hatte, so wie die arme, kleine, junge Kuh, die der Geburt harrte. Sobald das Essen beendet war, sprang Anna auf und lief in den Stall. Mathilde erkannte sie auf den ersten Blick. Sie stand verschüchtert und verängstigt in einer Ecke. Anna ging zu ihr, streichelte sie sanft und redete beruhigend auf sie ein. Offensichtlich war ihr noch nicht viel Gutes in ihrem Leben widerfahren, zumindest nicht von Seiten der Menschen, denn es dauerte lange, bis sie sich dazu bewegen ließ, mit Anna mitzugehen. Sie brachte die schwangere Kuh in eine ehemalige Pferdebox, wo sie in Ruhe ihr Kind zur Welt bringen konnte, fernab vom Getümmel der anderen. Einige Stunden später war es so weit. Allen Unkenrufen zum Trotz gebar sie mit Leichtigkeit einen gesunden kleinen Jungen. „Der muss so schnell wie möglich weg“, erklärte der Vater kopfschüttelnd, „Das bringt ja nichts. Und die Mutter mit dazu. Schau Dir mal nur das Euter an, das gibt nichts aus.“ „Verkauf sie mir“, begehrte Anna gegen dieses Vorhaben auf. „Und dann? Wer kommt für die Unterbringung auf und das Futter?“, fuhr der Vater unerbittlich fort. „Das mache ich“, erklärte Anna ebenso beharrlich. „Nun gut. Du weißt zwar, dass das sentimentaler Quatsch ist, aber mir soll es recht sein. Du musst Dich aber um sie kümmern“, forderte der Vater. „Ist in Ordnung“, stimmte Anna zu. Nun war sie also stolze Besitzerin einer Kuh und eines Kalbes. „Auch wenn ich alle anderen nicht retten kann, ja ihnen nicht einmal helfen kann, so wenigstens den beiden“, dachte Anna, als sie an diesem Abend schlafen ging, die Gedanken bei dem Kalb, das sie Moritz getauft hatte, an seine sanften, braunen Augen und die Freude, dass er bei seiner Mutter war. Ja, Anna war sich sicher, sie hatte das Richtige getan, egal was die Menschen rund um sie davon hielten, auch diese beiden hatten ein Recht zu leben und zusammen zu sein. Und so vergingen die Monate. Moritz war herangewachsen und so ungestüm, wie Teenager es eben sind. An dem Tag, an dem Anna die Schule beendete, stürmte sie sofort in den Stall, doch sowohl Mathilde als auch Moritz waren verschwunden. Stattdessen fand sie ein fremdes Pferd in der Box vor.

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