Kurze Zeit ist es erst her. Ich werde diese Stunden nie vergessen, in denen ich mit Dir saß, auf der Matratze am Boden, auf der Du immer so gerne lagst, saß da, Deinen Kopf in meinen Schoß gebettet. Spätnachmittag, der in die Dämmerung überging und schließlich in die Nacht. Die Zeit hatte ihre Vorherrschaft verloren, die Macht mich anzutreiben und zur Tat zu schicken, denn wir wussten beide, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis Du einschlafen würdest, für immer. Wobei wissen wohl zu viel gesagt ist, denn wie kann man wissen, wann es so weit ist? Wo beginnt das Sterben, das vom Tod abgeschlossen wird? Es war eine Ahnung, nichts weiter. Es war wohl wahrscheinlich, denn Du hattest ein Alter erreicht, das die statistisch gemessene, durchschnittliche Lebenserwartung bereits überschritten hatte. Dennoch, was sagt schon Statistik? Und dennoch fühlte es sich nach Abschied an, nach einem, dem kein Wiedersehen folgt. Die Balkontüre stand offen. Es war ein warmer Tag und aus dem Nachbargarten klang Kinderlachen zu uns, fröhliches, unbeschwertes Kinderlachen, während ich Dich streichelte, nicht reflexartig, sondern ganz bewusst, denn ich wusste nicht, wie lange ich das noch tun könnte, Deine Körperwärme spüren, Dir zu signalisieren, ich bin bei Dir, bis zum letzten Moment.
Es war sehr wahrscheinlich, aber deshalb noch lange nicht zwingend. Wir stehen auf, am Morgen oder wann immer, erwachen, und nehmen es als selbstverständlich. Jeden Tag aufs Neue, wenn wir Abmachungen treffen, die in der Zukunft liegen, gaukeln wir uns vor, wir wären unsterblich, zumindest denken wir nicht daran, dass es eines Tages sein kann, dass wir nicht mehr aufstehen. Das ist auch gut so, an das Leben zu glauben, an dieses eine, kleine Stück Unsterblichkeit in diesem Moment, in jedem Moment, den wir mit Leben füllen, lebendiges Leben, so wie ich in diesen Stunden der Vertrautheit mit Dir an der Schwelle zwischen Leben und Tod, gemeinsam sein, bis zum Schluss.
Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zurück, zu dem Tag, an dem Du in mein Leben tratst, jung, frisch, unverbraucht und voller Tatendrang. Ein kleiner Schelm voller kurioser Einfälle. Schuhe hatten daran glauben müssen und auch ein oder zwei Fernbedienungen. Diese Flausen gingen vorbei und ich ließ die gemeinsamen Jahre Revue passieren. Immer warst Du da und nach kürzester Zeit bereits warst Du aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Als wäre es nie anders gewesen. Und im Jetzt war es wie nie anders und für immer, das auszukosten, was wir miteinander erlebten. Aber ich dachte auch daran, dass Du im Alter kränker und gebrechlicher wurdest. Es ist normal, wird gesagt, weil der Körper abbaut, hinfälliger wird. Lebenskraft ist enden wollend, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, nicht daran denken. Aber es ist auch gut, nicht daran zu denken. Es würde das Leben hemmen, auch die Ungestümheit, würden wir nicht immer wieder so tun, als könnte uns nichts passieren. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit fokussiert, so dass aus dem Erleben eine Erinnerung wird, die bleibt, auch am Ende dieser Nacht, aus der Du nicht mehr erwachtest.
Wir empfangen das Leben, so wie es uns geschenkt wird, mit aller Dreistigkeit, weil es eben so und nicht anders ist und wir es uns nicht anders vorstellen können. Und jedes Mal, wenn in diese dreiste Vereinnahmung des Lebens der Tod bricht, lässt er uns innehalten, nachdenken. Was tut er mit uns? Er reißt uns heraus aus unserer Selbstverständlichkeit und dem Übermut, hinein in eine tiefe Ratlosigkeit. Warum darf es den Tod geben, wenn es das Leben gibt? Warum wird uns das Leben wieder genommen, scheinbar willkürlich? Und wenn es jemanden betrifft, der einen wichtigen Platz in unserem Leben einnahm, dann ist es, als wäre ein Teil von uns selbst untergegangen, unwiederbringlich. Warum darf das sein? Warum ist es so ungerecht? Wenn das Alter da ist – aber wann ist das Alter hoch genug, dass man zu sagen wagte, jetzt ist es genug? Manche spüren es, wenn es Zeit ist zu gehen, wenn sie abberufen werden. Lebensmüdigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Aber was ist mit all jenen, die in ihrer Jugend, gar in ihrer Kindheit aus dem Leben gerissen werden, aus einem Leben, das kaum begonnen hat, das sich gerade erst zugesprochen hat, um es jäh zu beenden, warum auch immer. Es ist ungerecht – aber das Schicksal ist blind. Schert sich nicht um Gerechtigkeit. So sehr wir auch versuchen, dagegen aufzubegehren, wir sind machtlos, dem Leben gegenüber, wie dem Tod. Wie kann es sein, dass Du nicht mehr bist, wo Du doch gerade eben noch warst. Wo geht es hin das Leben, wenn es geht? Wohin gehst Du mir verloren? Dabei ist es nicht wahr, Du gehst mir nicht verloren, sondern bleibst, in all den Erinnerungen an die gelebten Momente, so wir sie denn gelebt haben. Das schlechte Gewissen macht sich breit. Habe ich denn wirklich die Momente gelebt, die möglich waren oder habe ich nicht allzuviele verstreichen lassen, weil ich mir dachte, das kann ich doch nachholen, später oder an einem anderen Tag, weil ich nicht daran dachte, dass es zu Ende geht. Zu präsent ist das Leben, bis es sich auflöst und zerrinnt, wie die Zeit, die vergeht, unaufhaltsam, unwiederholbar. Vorbei ist vorbei. Es ist müßig darüber nachzudenken, was ich hätte tun sollen, aber es lehrt mich aufs Neue, es jetzt und jetzt und jetzt besser zu machen. Öfter innezuhalten, Dich anzusehen, Dich zu streicheln, durchatmen, da sein, bis zu jenem Moment, da sich das Leben verabschiedet. Auch da noch, nicht auszuweichen, es auszuhalten, so wie Du es auszuhalten hast.
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