Ich wollte meine Geschichte erzählen.
Ich lasse sie erzählen,
weil ich jetzt tot bin,
ermordet von einem Jäger.
Ich stand am Rande eines Feldes.
Die Treiber gingen hindurch
und scheuchten die Fasane auf.
Gerade vor mir
stieg einer in die Höhe.
Ich sah, wie der Jäger anlegte
und hörte den Schuss.
Die Schrotkugeln perforierten meinen Oberkörper.
Ich hätte diese Perforierung mit Stolz getragen,
als Zeichen und Mahnung,
wäre ich daran nicht gestorben.
Der Fasan kam davon.
Der Jäger zuckte mit den Schultern.
Ich hatte mich freiwillig in diese gefährliche Situation begeben.
Wo geschossen wird, wird auch getroffen.
Mitunter.
Diesmal war ich es.
Schade, dachte ich noch,
während ich verblutete.
Deshalb lasse ich meine Geschichte erzählen.
In der Ich-Form, als wäre ich es selbst.
Und mein Name ist Zoe.
Ich blicke nieder auf die Perforation auf meiner Brust.
Jede einzelne Schrotkugel ein Loch.
Und ich frage mich,
war es das,
das erste Hinsehen,
irritiert sein,
wohl auch schockiert,
aber in erster Linie,
die natürliche Reaktion,
zu leugnen,
wegzuleugnen.
Stufen der Trauer
Verleugnung.
Das stimmt alles nicht.
Das kann gar nicht stimmen,
weil mir immer was anderes erzählt wurde.
Ja, es wurde mir erzählt
und ich habe es geglaubt.
Konnte es sein,
dass sie logen,
einfach logen?
Menschen, von denen ich meinte,
sie liebten mich,
von denen ich meinte,
ich könne ihnen vertrauen.
Wie lange hatte ich mich an der Nase herumführen lassen?
Und der Zorn steigt in mir auf,
auf alle, die mich belogen.
Was hatten sie zu suchen
in der Hierarchie
der Autoritäten und Respektspersonen?
Nichts, außer es ginge um die Hierarchie
der Lügner und Heuchler.
Warum habt ihr mir das angetan?
Warum habt ihr mich gezwungen
dieses Spiel des Todes mitzuspielen?
Warum habt ihr mich so verraten?
Ganz anders als der Jäger.
Er perforierte mich,
in aller Offenheit,
so wie er sein Mordhandwerk ausführt,
offen und geachtet,
nur ihr habt den Tod hinter verschlossene Türen verbannt.
„Sieh nicht hin Kind,
es ist nicht gut für Dich.“
Das Blut ist nie mehr abzuwaschen.
Blut an meinen Händen.
Und ich warf es Euch an den Kopf.
Das hätte ich nicht tun sollen.
Ginge es auch anders?
Nein, es geht nicht anders.
Die Lebenslüge über die Wahrheit
einer todbringenden Gesellschaft
muss unter allen Umständen
aufrechterhalten werden.
Deshalb geh gefälligst zurück
in Dein Hamsterrad
arbeiten – konsumieren – regenerieren
und denk nicht nach,
denk um Gottes willen nicht nach,
aber es ging nicht mehr anders.
Mit offenen Augen ist es schwer
nicht zu sehen.
Viele kleine rote Punkte,
willkürlich verstreut auf meiner Brust.
Hatte ich gerade meinen Körper entdeckt,
als zu mir gehörig,
als etwas,
das nicht einfach mir,
sondern zu mir gehörte,
Teil,
Vervollständigung,
Komplettierung,
war es doch nichts weiter,
als ein erster Schritt gewesen.
Ganzheitlich,
mein Körper & mein Geist,
Ausdruck zu sein,
ununterscheidbar,
wo die Tat aufhörte,
wo der Gedanke begann,
wo der Gedanke aufhörte,
wo die Tat begann,
Eins sein,
umschlungen,
durchflossen,
Eins sein,
Stimme & Berührung,
angesprochen & berührt sein.
Ein neuer Ausgangspunkt.
Ein neues Leben.
War es ein Tag gewesen
und eine Nacht
und nochmals ein Tag
und eine Nacht
im Einerlei des Unabänderlichen
und von mir Unbeeinflussbaren,
so war es nun
ein Tag,
aber ein Tag,
eine Nacht
aber eine Nacht,
Tag um Tag,
Nacht um Nacht,
mit lauterer Lebendigkeit zu füllen,
mit Liebe und Offenheit und Zugewandtheit,
ohne zu fragen,
ob ich denn dürfe,
ob es sich denn gehöre.
Nur,
ob es Lebendigkeit
und überfließenden Überfluss bedeutet,
eine Norm,
die sich nur am Leben orientiert
und nicht mehr an der normierten Normalität.
Leben & Lieben,
lebendig lieben,
liebend leben.
Nichts weiter.
Der Moment,
von dem an es wert ist,
meine Geschichte zu erzählen,
war jener,
in dem ich zu denken begann.
Nein,
das ist nicht ganz richtig.
Es gärte, rumorte, drangsalierte
schon lange in mir.
Die ewige Leere zu betäuben
durch unausgesetzte Geschäftigkeit,
machte mich müde,
laugte mich aus.
Erst die Zäsur brachte die Wende.
Aus dem überflüssigen Überfluss
wurde ein überfließender,
ein Entdecken des lebendig-liebenden Lebens
in allen Facetten.
Ich war erst am Anfang.
Es hätte noch so viel zu verwirklichen gegeben.
Und die Perforation von den Schrotkugeln
hätte mich ausgezeichnet,
wäre ich nicht daran gestorben.
Aber ich weiß,
es gibt viele,
die es weiterführen,
vielleicht erst den Gedanken aufnehmen,
in sich wachsen lassen,
bis sie bereit sind für den roten Strich der Zäsur.
Dort wo meine Geschichte in ihren Anfang nahm.
Und so rasch endete.
Und mein Name war Zoe
Zoes ganze Geschichte: Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand
