Lina wuchs in einer Familie auf, in der jede mit den Händen arbeitete. Sie hatten eine kleine Landwirtschaft, mit Gemüse, Obst und Kartoffeln. Die Mutter legte, kochte ein und verkaufte diese Dinge am Markt. Der Vater war Tischler und Drechsler. Es gab immer etwas zu reparieren. Nein, reich wurde man nicht davon, aber es war genug, um ein bescheidenes Leben zu führen. Tiere gab es keine auf dem kleinen Hof, außer einer Eselstute, mit der Linas Mutter die selbstgemachten Lebensmittel auf den Markt gebracht hatte, früher. Jetzt durfte sie ihr Gnadenbrot fressen. Sie sollte nicht alleine sein, die kleine Tapsi. Deshalb brachte Lina sie eines Tages zum Nachbaresel, so dass sie schwanger wurde und einige Monate später ein kleines Mädchen gebar. Lina nannte sie Stupsi. Von Anfang an war Stupsi sonderbar, verschreckt, in sich gekehrt und ängstlich. So wie Lina, die als Kind zwar angefangen hatte zu sprechen, es aber bald wieder aufgegeben hatte. Seitdem war sie stumm und in sich gekehrt.
Der Vater meinte, die Esel müssten weg. Es gab keinen Grund mehr, sie zu behalten. „Das darfst Du nicht“, meinte Lina, die sich zum ersten Mal seit vielen Jahren aufraffte, etwas zu sagen. „Wie stellst Du Dir das vor?“, fragte der Vater, der weder ihr Nicht-Sprechen noch ihr plötzliches Kommunikationsangebot als bemerkenswert empfand, „Das Stroh wird immer teurer und wir haben keinen Nutzen von ihnen.“ „Ich werde das Geld beschaffen“, sagte Lina, „Ich ziehe zu ihnen in den Stall.“ Tatsächlich bezog Lina den kleinen Nebenraum neben dem Stall. Es gab eine Verbindungstüre mit einer Luke, die es sowohl den Eseln, als auch ihr erlaubten jeweils auf die andere Seite zu sehen. Lina hatte sich das alles genau überlegt. Nur weil sie nicht sprach, hieß dass noch lange nicht, dass sie nicht dachte. Das setzen viele gerne in eines. Sie nutzte die Geschicklichkeit ihrer Hände und das, was sie von ihrem Vater gelernt hatte, um kleine Holzfiguren zu gestalten. „Du willst also, dass ich die verkaufe, auf dem Markt?“, fragte ihre Mutter, als Lina sie ihr brachte. Diese nickte nur. Die Mutter besah sich die Stücke genau. Es waren Tierfiguren, in erster Linie, wenig überraschend, Esel, wie es sie wohl wie Sand am Meer gab. Doch sie hatten etwas Besonderes, eine eigene Ausstrahlung, eine Mischung aus Melancholie und Harmonie, Traurigkeit und Freude in einem. Was wohl daran lag, dass es sich niemals um einzelne Tiere handelte, sondern um jeweils ein großes und ein kleines oder mehrere. Wie die Henne mit den Küken unter den Flügeln. Und natürlich Tapsi mit Stupsi. Es rührte die Mutter, welchen Eifer ihre Lina, um die sie sich so viele Sorgen machte, daran setzte, die Esel zu retten. Denn wo sie hinkämen, wenn Lina es nicht schaffen sollte, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, war klar. Es musste nicht ausgesprochen zu werden. „Gut, ich mache es“, erklärte sich die Mutter bereit, „Aber nur unter einer Bedingung. Du kommst mit, denn seit ich Tapsi nicht mehr benutzen kann, aber stattdessen einen Handwagen, ist der Transport sehr schwer für mich geworden. Du hilfst mir den Handwagen zu ziehen.“ Lina lächelte zaghaft, was ihre Mutter erfreute und als Zustimmung auffasste. Zum nächsten Markttag, der in der nahegelegenen Stadt jede Woche stattfand, zog Lina den Handwagen ihrer Mutter. Den ganzen Tag stand sie hinter ihrem kleinen Tischchen und bot ihre Waren feil. Das Interesse war groß und der Absatz ebenso. Als sie an diesem Abend in ihr Häuschen zurückkehrten, war der Handwagen leer. „Ich denke, Du musst Dir keine Sorgen mehr machen um Tapsi und Stupsi.“
Lina saß im Stall an diesem Abend und war einfach froh. Stupsi hatte sich neben sie gelegt und seinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Lina war die einzige, vor der sich die kleine Eseldame nicht fürchtete. Wahrscheinlich weil sie eine Verbundenheit fühlte, zwischen zwei Wesen, die mit der lauten, schrillen, hektischen Welt nicht zurechtkamen. Lina musste nichts sagen, kein einziges Wort, um verstanden zu werden. Es war einfach, so einfach, wie das Leben einfach sein kann, wenn man es lässt.
So nahm das Leben seinen Gang, auch in dem kleinen Häuschen am Rande des Dorfes. Lina soll nie mehr gesprochen haben, doch sie hatte auch keinen Grund mehr. Sie war sichs zufrieden, mit ihrem Zimmer neben dem Stall, ihrer Arbeit und ihren täglichen Spaziergängen mit den Eseln. Es war gut und es gab keinen Grund, mehr zu wollen.