Du hast sie Dir vertraut gemacht

Zuerst sahst Du sie nur ab und zu, wenn sie an Deinem Fenster vorbeiglitt, sanft und lautlos. Es war Zufall, purer Zufall, dass Du sie entdecktest, doch sobald es geschehen war, wurdest Du aufmerksamer, achtetest auf jedes leise Rascheln, auf den kleinsten Schatten, wenn Du aus dem Fenster sahst. Wunderschön war sie, und Du hattest Freude daran, sie aus der Ferne zu sehen. An den Tagen, an denen Du sie sahst, warst Du fröhlich und ausgeglichen. Dieser eine kleine Moment genügte, Deinen Tag zu verwandeln, in einen besonderen, herausgehoben aus der zähen Masse all der anderen Tage. Sie schritt in Dein Blickfeld, durch es hindurch und wieder hinaus. Es war ein guter Tag.

Eines Tages blieb sie stehen, drehte den schlanken Hals in Deine Richtung und sah Dich an, nur einen Moment, doch Du warst verzaubert. Es war nun, als würdest Du auf sie warten. Öfter als sonst gingst Du ans Fenster, in der Hoffnung sie zu sehen, aber auch sie kam öfter vorbei. War sie das erste Mal nur einen Moment stehen-geblieben, so war es nun länger. Eure Blicke fanden sich und verweilten ineinander. Niemals konntest Du sagen, wie viel Zeit vergangen, niemals sagen, ob es nur ein Moment, ein Herzschlag lang gewesen war oder eine Stunde. Die Zeit stand still. Du hattest die Gelegenheit sie genauer zu beobachten. Ihr Fell war weiß, mit braunen und schwarzen Flecken. „Eine Glückskatze“, dachtest Du bei Dir, „Wie sie sich wohl anfühlt? Wie sie wohl riecht?“ So kam es dazu, dass Du einmal das Fenster öffnetest. Das Geräusch verschreckte sie, sodass sie behände von dannen sprang. An diesem Tag warst Du niedergeschlagen, da Du fürchtetest sie für immer verscheucht zu haben, und wirklich ließ sie sich zwei Tage nicht blicken. Du dachtest, sie würde nie wieder kommen, doch am dritten Tag, da war sie wieder da. Sie saß auf der Wiese vor Deinem Fenster und schleckte sich die Pfoten. Am liebsten wärst Du aus dem Fenster gesprungen, direkt auf sie zu, so groß war Deine Freude, doch Du wolltest sie nicht noch einmal verlieren. So beließt Du es dabei, sie zu beobachten, aber am nächsten Tag stand das Fenster bereits offen, als sie kam, so dass sie das Geräusch nicht verschrecken konnte. Und wirklich sie kam näher, hin zu Deinem Fenster. Wenn Du die Hand ausgestreckt hättest, Du hättest sie berühren können, so nahe war sie gekommen. Doch Du warst achtsam, wolltest ihr keinen Anlass geben zu erschrecken. Immer näher und näher kam sie, und Du warst Offenheit und Annahme. Ihr wurdet Euch vertrauter. Du schenktest ihr die Hoffnung, sie wäre gut aufgehoben bei Dir. Du würdest sie stärken und schützen und beheimaten. Mit ihrem Näschen strich sie über Deinen Handrücken, streifte kokett Deinen Arm, und Du liest die Hand ganz sacht über ihr weiches Fell gleiten. Augenblicke der stillen Vertrautheit, des lebendigen Miteinander, und das Verstehen wuchs. Kennen lernen heißt sich und den anderen lernen, Preisgabe und Eingabe. Da ludst Du sie ein, doch zu Dir zu kommen. Nicht mehr nur am Fensterbrett sitzen, ludst sie ein in Dein Leben zu treten und es zu erfüllen. Du wolltest es, wolltest es wirklich, und endlich setzte sie an, zum Sprung, vom Fensterbrett ins Zimmer, doch von einen auf den anderen Moment packte Dich die blanke Wut. Wie konnte es sein, dass sie sich so prostituierte, sich Dir überließ. Sie war nicht besser, als all die anderen Schlampen, die Du kennengelernt hattest, so dass Du das Fenster zuschlugst, während ihre Pfote zwischen Fenster und Fensterrahmen steckte und zerquetscht wurde und die Scheibe, die die Nase traf, mit ihrem Blut verschmiert war. Aber sie ging nicht. Du hattest sie Dir vertraut gemacht. Trotz der Schmerzen, die Du ihr zugefügt hattest, glaubte sie noch immer. Winselnd saß sie auf dem Fensterbrett, verletzt, gedemütigt, Dich dennoch ersehnend.

Du saßt drinnen und verschmähtest sie und ihren Schmerz, ja wurdest zornig, dass sie da war und jammerte. Noch einmal öffnetest Du das Fenster, doch nicht um sie zu Dir zu holen, sondern sie endgültig wegzustoßen, weg von Deinem Fensterbrett, hinaus in die Kälte. Und Du hattest sie Dir vertraut gemacht.

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2 Gedanken zu „Du hast sie Dir vertraut gemacht

  1. oma99

    hab nicht wirklich Worte,doch leider gibt es genug Menschen, die – warum auch immer – ihnen vertraut gemachte Lebewesen aus ihrem Leben stoßen.
    Verantwortung? Nein danke, scheinen sie zu denken.
    ich verstehe sie nicht, diese Menschen.

    Danke, das Du dies thematisierst!

    Gefällt 1 Person

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