Das Lämmchen

Das Lämmchen war weiß, stramm und gesund. Es hatte keine Namen, nur eine Nummer, die auf einer gelben Ohrmarke stand. Wozu auch einen Namen geben, wenn es doch so viele waren in diesem Betrieb, in dem Schafe gezüchtet wurden? Es wäre zu umständlich gewesen. Und selbst die Ohrmarken hätte es nicht gegeben, wären sie nicht vorgeschrieben gewesen. Diese bedeuten Mühe genug. Jeder Handgriff mehr kostete Geld, das man nicht unbedingt bekam. Der Schafbauer arbeitete hart, doch es rentierte sich. Wichtig war für ihn nur, dass die Lämmer gesund waren und der Tierarzt nicht kommen musste.

Mittlerweile brauchte der Schafbauer den Veterinär nur mehr in den seltensten Fällen. War es eine leichte Einschränkung, konnte der Landwirt dies mittlerweile selbst beheben. War es etwas Schwerwiegendes, dann wurde das Tier eben aussortiert. War zwar Ressourcenverschwendung, aber aufwändige Pflege und Tierarztkosten konnte er niemals verdienen. Entfernen war die billigste Alternative.

Das kleine Lämmchen kuschelte sich an seine Mutter. Es war ein wenig ängstlich, fühlte sich unsicher und all den Tieren, aber bei der Mama war sie in Sicherheit, da konnte ihr nichts passieren. Unter all den anderen Stimmen konnte es die seiner Mutter erkennen. Wenn das Lämmchen die Mutter einmal aus dem Blick verlor, ließ es seine kleine Stimme vernehmen und kurze Zeit später waren sie wieder vereint. Eigentlich war das das Wichtigste, Sicherheit und Geborgenheit.

Doch dann kam der Morgen, der alles veränderte. Der Bauer kam in den Stall, aber mit ihm andere Männer, die das Lämmchen noch nie gesehen hatte. Sie packten die Lämmer, immer mehrere auf einmal mit ihren großen Händen und trugen sie fort. Natürlich schrien die Tiere, als ginge es um ihr Leben, so dass die Mütter angelaufen kamen, aber es nützte nichts. Die Mütter wurden zurückgestoßen, brutal und ungeduldig, die Lämmer weggetragen, um auf einen Transporter geworfen zu werden. Ängstlich kauerten sie sich zusammen, doch sie hörten nicht auf, ihre Klagelaute von sich zu geben. „Verdammte Viecher“, presste einer der Männer zwischen den Lippen hervor, einer, der noch nicht lange im Geschäft war, denn die anderen, die es schon seit vielen Jahren machten, schienen es nicht einmal mehr zu hören. Endlich waren alle verladen und der Transporter fuhr los. Das Lämmchen wusste nicht, wohin es gebracht wurde, ebenso wie all die anderen, aber es war weg von seiner Mutter und egal, wohin es ging, weg von seiner Mutter war das Schlimmste, was man ihm antun konnte. Dachte es zumindest jetzt noch.

Aber vielleicht wurden sie ja nur an einen anderen Ort gebracht, einen, wo man auf einer saftigen Wiese herumspringen konnte und wo die Mama schon auf das Lämmchen wartete. Da würde es einfach laut rufen und die Mama, die auch so weggeführt worden war, würde es finden. Dann wäre es nicht mehr alleine. Dieser Gedanke tröstete das Lämmchen ein wenig, denn es konnte sich nichts anderes vorstellen, war ihm doch das menschliche Denken, die Pläne und Absichten, völlig fremd. Es war ja nichts weiter als ein kleines, weißes Lämmchen das mit großen Augen in die Welt hinaussah, eine Welt, in der es leben wollte, am besten auf einer Wiese. Nichts als leben.

Endlich hielt der Transporter an. Die Lämmer wurden vom selben getrieben. Doch da war weder eine Wiese noch die Mama, nur ein dunkler, von Mauern umgebener Hof. Von diesem wurden sie in eine Halle getrieben. Das Lämmchen roch die Angst und das Blut. Große Männer in weißen, von Blut besudelten Schürzen warteten auf die kleinen Tiere. Es sah zu, das kleine Lämmchen, wie den anderen die Kehlen durchgeschnitten wurden, einem nach dem anderen. Es wollte fliehen, doch starke Hände hielten es fest. Dann war es an der Reihe. Der Schlächter fasste es hart an. Die Augen blickten ihn flehend an. In seinem Blick lag die ganze Verzweiflung eines ungelebten Lebens. Warum nur taten die Menschen das, es auf die Welt bringen, um ihm kurz danach die Kehle durchzuschneiden? Doch der Schlächter tat seine Arbeit und einige Momente später gab es dieses kleine Leben nicht mehr. Es war keine große Sache, denn das Sterben geschah am Fließband. Der Mörder war routiniert. Es gab nichts mehr, was ihn rühren konnte. Schon gar nicht die Verzweiflung seiner Opfer.

Hinterlasse einen Kommentar